WOLFGANG JOOP & HERMES PHETTBERGWOLFGANG JOOP & HERMES PHETTBERGWOLFGANG JOOP & HERMES PHETTBERGWOLFGANG JOOP & HERMES PHETTBERG
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Feuilleton Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.06.2002, Nr. 24, S. 28
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IM BETT MIT JOOP UND PHETTBERG
Von Christian Ankowitsch

Wo sitzt sie denn, diese Seele?
Modeschöpfer Wolfgang Joop und Ex-Moderator Hermes Phettberg über Artischocken, Gott und ihre Minderwertigkeitskomplexe

Wolfgang Joop: Ich habe ein älteres Interview mit Ihnen gelesen, und es hat mir sehr imponiert. Auf dem Foto hatten Sie längere Locken. Waren Sie beim Friseur

Hermes Phettberg: Ich hatte Blasenkrebs, und Blasenkrebs verändert die Frisur.

Joop: Sie haben Blasenkrebs?

Phettberg: Ich hatte. Und zwar nur auf der obersten Blasenschicht. Er wurde geheilt, indem mein ganzer Körper mit Pilzen versehrt wurde, eineinhalb Jahre lang - und dabei sind mir die Haare ausgefallen. Für einen Friseur hätte ich kein Geld. Alles an mir ist billigst - Sie haben auch schon mein Sakko gemustert, ich habe es genau bemerkt.

Joop: Da irren Sie sich.

Phettberg: Mein Sakko hat nicht viel gekostet, ist dafür aber von grandezzaler Lächerlichkeit. Ein türkischer Schneider hat es mir gemacht.

Joop: Wenn man so eine Figur hat wie Sie, muß man zum Schneider gehen, am besten zum Haute-Couture-Schneider. Ich trage nur Secondhand, Crunch- Look.

Sie sind beide auf einem Bauernhof aufgewachsen . . .

Phettberg: . . . Sie kommen sicher von einem großen Bauernhof.

Joop: Nein. "Ein Häusle" hat es mal ein ehemaliger Assistent von mir genannt - seine Eltern sind Großgrundbesitzer in Bayern.

Phettberg: Wir hatten drei Hektar.

Joop: Und wir zwanzig.

Phettberg: Na bitte, zwanzig!

Joop: Aber die lagen in der DDR! Wir saßen dort unter der kommunistischen Knute, während Sie von Anfang an befreit waren.

Stellen Sie sich vor, Sie sind sechs Jahre alt, es ist sieben Uhr morgens, und Sie stehen vor dem Haus, in dem Sie zu Hause sind. Was sehen, was riechen Sie?

Joop: Eigenartigerweise fällt mir als erstes eine Winterszene ein: Ich laufe zu meinen Großeltern zurück und kuschle mich zu ihnen ins Bett; wir wohnten in einem Haus aus dem 19. Jahrhundert, und es roch etwas feucht. Auf dem Schrank des Schlafzimmers lagen im Winter immer Äpfel und dufteten gegen den Bettengeruch an. Im Sommer komme ich erst zurück, wenn es dunkel wird, denn mein Kinderzimmer war im Freien.

Phettberg: Ich habe als Kind sehr lange geglaubt, ich sei ein besonders braves "Nutscha" - so heißen bei uns die kleinen Schweine - und bin nur deshalb aus dem Stall ins Wohnhaus zu den Eltern geholt worden.

Joop: Später waren Sie ein nicht mehr ganz so braves Ferkel.

Phettberg: Das stimmt nicht. Ich bin vollkommen und immer brav.

Joop: Leiden Sie darunter?

Phettberg: Ich leide darunter, so dumm zu sein. Dumm in dem Sinne: nicht raffiniert genug zu sein für das Sündigen. Ich komme aus dem Mittelalter: Als mein um vieles älterer Bruder heiratete, übernahm er den Hof, und ich mußte mit meinen Eltern in die "Ausnahme" übersiedeln, in ein neues, kleines Haus. Erst damals habe ich verstanden, daß ich Eltern habe und wer sie sind, denn wir hatten bis dahin mit unglaublich vielen alten Frauen zusammengewohnt.

Joop: Bei mir war es genauso: Ich hatte auch nie das Gefühl, daß es Eltern gibt, mein Vater war ja in Gefangenschaft. Statt dessen war ich ebenfalls nur von Frauen umgeben: meiner Mutter, deren Schwestern und so fort.

Phettberg: Mein Elend bestand darin, daß mir unter den vielen Menschen auf dem Hof die Eltern am unsympathischsten waren.

Joop: Es war für unsere gefährdeten Seelen sicher die Rettung, daß es so viele Frauen gab, an die wir uns halten konnten.

Phettberg: Ja, nur war für mich all das mit acht Jahren vorbei!

Joop: Für mich doch auch, genau mit acht! Da tauchte plötzlich ein Mann in Potsdam auf und sagte: "Hallo, ich bin dein Vater." Ich hatte ihn nie zuvor gesehen. Mir war immer von ihm erzählt worden, und so machte ich eine strahlende Comicfigur aus ihm.

Phettberg: Er war eine Enttäuschung für Sie?

Joop: Ja, aber es war wohl umgekehrt genauso. Mein Vater hat sich vermutlich einen lieben, braven Sohn vorgestellt, nur ist der auf die Bäume geflohen, sobald er in dessen Nähe kam. Und Männer werden aus Schwäche leider oft gewalttätig, und so verprügelte er mich.

Phettberg: Bei mir machte das die Mama. Mein Vater war schüchtern und sehr ichschwach.

Joop: Was sagt denn Ihr Psychoanalytiker dazu?

Phettberg: Ich habe sehr positive Erinnerungen an ihn. Ich legte mich viermal in der Woche bei ihm auf die Couch - und hatte auf diese Weise viermal in der Woche einen klugen Menschen, mit dem ich reden konnte. Die Psychoanalyse heilt nicht, aber sie unterhält.

Joop: Ich habe erst heute verstanden, wie schmerzhaft diese Männer den Bruch ihrer Biographie erlebt haben müssen. Weil ich den Standards meines Vaters nicht genügte, hielt er mir Vorträge. Das hatte zur Folge, daß ich nicht zuhören konnte.

Phettberg: Wie konnten Sie dann gehorchen?

Joop: Ich gehorche sofort, wenn ich eine natürliche Autorität spüre, die nicht aus einer Pose entsteht. Und Sie? Sie sind doch jemand, der sich gerne unterwirft.

Phettberg: Ja, aber nur sexuell. Wenn das wirklich wird, hört es schlagartig auf. Es ist eine große Kunst, sich auf das Spiel von Gehorchen und Befehlen einzulassen - aber ich habe in meinem Leben nur ungefähr siebenmal Sex gehabt, mein letzter wirklich nennenswerter datiert in das Jahr 1989. Ich bin ja von sagenhafter Unattraktivität.

Joop: Siebenmal Sex? Da können Sie sich an jedes einzelne Mal erinnern - das nenne ich Erotik mit Überblick.

Phettberg: Aber mein vordringlichstes Problem ist meine Freßsucht. Sie kostet mich ein Vermögen.

Ist Essen ein Feind, gegen den Sie kämpfen?

Phettberg: Essen ist Erholung! Ich nehme etwas zu mir und kehre dabei zu mir zurück. Ich glaube, das darf ich gar nicht aussprechen, sonst bricht das Imperial zusammen. Also die einfachste Freßregel lautet: Auf Saures muß Süßes folgen. Erst kommen Chicken McNuggets . . .

Joop: Formfleisch, igitt. Die Sucht hatte ich nur kurz. Dann nie wieder.

Sie haben sie immerhin kennengelernt.

Joop: Ich kenne alles.

Phettberg: Das wäre eine schöne Überschrift: "Ich kenne alles!"

Joop: Aber das betrifft nur das Essen.

Phettberg: Das glaube ich Ihnen nicht.

Joop: Ich bin keineswegs so ausschweifend gewesen, wie ich das gerne gewesen wäre. Ich wäre gerne exzentrischer.

Phettberg: Bei uns in der Wiener Sadomasoszene sind 85 Prozent der Männer gestorben. Und ich habe überlebt, weil ich so wenig begehrt wurde.

Joop: Das hat mir ein Aidskranker in New York auch gesagt: "Siehst du, das habe ich nun davon, daß ich so begehrt war!" Sehr eigenartig, daß ich den Satz auf diese Weise noch einmal höre.

Phettberg: Und weil Sie zurückhaltender waren, haben Sie überlebt.

Joop: Vielleicht. Ich wurde Anfang der achtziger Jahre von Robert Mapplethorpe fotografiert. Er lud mich auf eine Black Night Party ein, die drei Tage und Nächte dauerte. Man hat mich in schwarzes Gummi und Leder gesteckt, nannte mich German Warlord und nahm mich mit auf die Party. Doch ich habe mich sehr schnell gelangweilt; alles, was man pervers nannte, fand ich provinziell. Die Sensation der Perversion erschöpft sich sehr schnell.

Phettberg: Als Schwuler oder Sadomasochist ist man nicht automatisch heller. Obwohl der Sadomasochismus ein großer und tiefer Weg wäre.

Joop: Ich wäre auf dieser Party zu allem verführbar gewesen, wenn es mich denn gelockt hätte. Doch nichts dort hat meine traditionell bürgerlichen Vorstellungen von Liebe, Erotik und Zärtlichkeit berührt oder verstört.

Phettberg: Ich habe kürzlich im Fernsehen Ausschnitte aus Ihrem ersten Film gesehen - Sie sind ja heute auch eine Schönheit, aber damals, in den Achtzigern - mein Lieber!

Joop: Als erster hat mich Luchino Visconti gefragt, ob ich in einem Film mitspielen wolle. Er war damals schon sehr krank und ging am Stock. Als wir einander begegnet sind, trug er ein achtstöckiges Lodencape; es war die Zeit, als er mit Helmut Berger wohl nicht mehr klar kam. Ich sollte irgendeinen Angestellten spielen, war aber damals viel zu unsouverän, um mit so einer Situation umzugehen. Ich bekam provinzielle Angstzustände und bin dann regelrecht geflohen. Nachher hatte ich natürlich den Komplex, eine Chance verpaßt zu haben, und sagte beim erstbesten Angebot Ja - der Film war so schlecht, daß ich nie wieder mit dieser Szene zu tun haben wollte.

Phettberg: Der Ausschnitt war aber sehr schön.

Joop: Danke, aber Ausschnitte sind oft sehr schön. Aber Sie sind doch in Österreich als Talkmaster berühmt geworden.

Phettberg: Ich bin nur ins Fernsehen geraten, weil mich Kurt Palm, ein Regisseur und brillanter Öffentlichkeitshersteller nahm und hineinsetzte. Hätte es diesen Regisseur nicht gegeben, der vor Ehrgeiz barst und daher mich produzierte, um damit sich selber zu produzieren, wäre ich nie bekannt geworden.

Joop: Das ist mir auch so gegangen: Ich bin immer wieder entdeckt worden. Ich habe selbst überhaupt keinen Antrieb, irgendetwas von dem zu tun, das ich tue. Nichts, gar nichts! In keinem Film hätte ich mitgespielt, ich hätte keine Kollektion gemacht . . .

Phettberg: Wer hat Sie denn entdeckt? Lagerfeld?

Joop: Nein, um Himmels willen! Herr Lagerfeld hätte mich bestimmt nicht rausgeholt.

Phettberg: Sie waren also anfangs ein kleiner Schneider?

Joop: Nein, das auch nicht. Ich kann ja nicht einmal einen Knopf annähen. Ich hatte in Braunschweig widerwillig Kunsterzieher studiert, weil ich nicht wußte, was ich machen wollte - ich hatte zu nichts eine tiefe Leidenschaft, sondern nur Sehnsucht nach meiner verlorenen Kindheit. Ich wollte dieses traumatische Erlebnis überwinden, daß ich mit acht Jahren aus Potsdam weg mußte.

Phettberg: Sie waren also nie Schneider?

Joop: Nein, ich habe zufälligerweise einen Modewettbewerb gewonnen, dann bekam ich einen Job, den ich nicht gelernt hatte, und wechselte in den nächsten, den ich auch nicht gelernt hatte. Ich habe noch nie irgendetwas gemacht, das ich gelernt habe, weswegen ich mich vielleicht doppelt anstrenge.

Phettberg: Da sind wir wirklich sehr parallele Existenzen - bis auf den Unterschied, daß meine Prominentwerdung unendlich langsamer und später geschah und unendlich schneller wieder vorbei war. Ich war 43 Jahre alt, als dieser Regisseur mich entdeckte und ins Fernsehen brachte. Neun Monate lang wurde ich dort gezeigt - dann war der Spuk vorbei. Seit damals krebse ich herum, verarmt und ohne jede Perspektive.

Joop: Warum schreiben Sie nicht?

Phettberg: Tue ich ja. Aber das kauft niemand und will auch niemand lesen.

Joop: Glaube ich nicht!

Phettberg: Es ist so! Ich schreibe zwar seit zehn Jahren eine Kolumne in einer Wiener Stadtzeitung, den "Falter", aber es mußte jetzt eine Benefizveranstaltung für mich gemacht werden, damit ich von etwas leben kann.

Joop: Immerhin macht man eine Benefizveranstaltung für Sie.

Phettberg: Aber die ist nur das Produkt dieser Fernsehauftritte und nicht darin begründet, daß man mich als Autor schätzt.

Joop: Ich bin auch immer nur das Produkt des Produkts, das vorher entstanden ist.

Bei Ihnen waren ungleich mehr Regisseure tätig als bei Hermes Phettberg.

Joop: Mag sein, vielleicht lag der Grund für meine Karriere auch darin, daß ich mehr gereist bin. Uns unterscheidet, daß ich für die anderen immer ein Stück leere Leinwand war - Sie sind das nicht. Auf mich konnte jeder projizieren, was er wollte, ich sah immer irgend jemandem ähnlich. Die Menschen konnten mich in ihren Augen formen.

Phettberg: Hatten Sie jemals Angst, daß es Ihnen so gehen könnte wie mir?

Joop: Oft! Die Panik, etwas nicht zu Ende zu bekommen, es nicht zur Zufriedenheit anderer zu erledigen, begleitet mich ununterbrochen. Wenn ich mit etwas, das in meinen Augen eine Leistung war, zu meinen Eltern kam, hieß es: "Hättest du doch da mal was Anständiges geleistet." Was da war, galt nie etwas. Das ist mir geblieben.

Phettberg: Der zentrale Unterschied zwischen uns beiden ist natürlich, daß meine Prominenz genau neun Monate dauerte, und ich daher nur neun Monate gelebt habe. Durch dieses traumatische Erlebnis des Einmaligen bin ich voller Angst - und verweigere mich seitdem total.

Joop: Das hört sich tragisch an. Sie haben vorher und nachher nicht gelebt?

Phettberg: Nein. Wien ist eine böse, alte Frau - das ist ein Zitat von André Heller -, so daß mein Leben dort nicht gelingen konnte. Ich war doch der große Diskussionsleiter und Moderator in Wien, ich wäre für jede Art von Gespräch der Geeignetste gewesen. Ich habe keine Ahnung, warum ich eliminiert worden bin.

Joop: Ich glaube es zu wissen: Sie sind ein fleischgewordener Teil der Seele dieser Stadt. Und das Problem ist: Man will die eigene Diagnose in seiner Stadt nicht immer sehen. Vielleicht hätten Sie nach Berlin gehen sollen? Ja, Sie hätten sich in den Zug setzen müssen und wegfahren.

Phettberg: Ich habe ja keinerlei Geld und bin völlig mittellos.

Joop: Da legen wir zusammen und besorgen Ihnen ein Bahnticket.

In welchem Moment Ihres Lebens waren Sie davon überzeugt, daß es Gott gibt?

Phettberg: Nie!

Joop: Immer!

Phettberg: Ha! Auf den ersten Blick hätte man sicher gesagt, daß ich der Naive von uns beiden bin - aber jetzt. Ich habe immer nur gedacht, es wäre schön, wenn es Gott gäbe.

Joop: Haben Sie darauf gewartet, daß er sich Ihnen zeigt?

Phettberg: Das tue ich heute noch. Denn was ist, wenn man stirbt und wieder erwacht - und es gibt ewiges Stehbüfett? Und Jeansboys! Sind Jeansboys auch das Ihre?

Joop: Ja - doch, denn irgendwie bin ich selbst einer geblieben.

Phettberg: Wissen Sie, daß ich lange Zeit, genau genommen bis vor fünf Tagen, geglaubt habe, Sie seien Calvin Klein? Ich glaubte die ganze Zeit, daß diese androgynen Jeansboys aus der Werbung die Ihren sind. Ist Calvin Klein ein Amerikaner oder ein Engländer?

Joop: Ein Amerikaner. Ich kenne ihn persönlich. Ihre Verwechslung ist naheliegend, denn ich gelte dem Mainstream als europäische Antwort auf Calvin Klein. Man hat mich immer mit den Menschen, die meine Kleidung tragen, identifiziert und weniger mit bestimmten Sakkos. Ganz im Gegensatz zu Westwood oder Lagerfeld, die man mit einer konkreten Knopflösung in Zusammenhang bringt.

Phettberg: Wie konnte es passieren, daß ein in der DDR sozialisierter Mensch wie Sie an Gott glaubt?

Joop: Erst einmal aus Protest gegen das Schulsystem, in dem mir dauernd der Sozialismus angetragen wurde. Außerdem wurde ich von meinen Großeltern christlich erzogen. Ich fühle mich ärmer, wenn ich sage: Ich glaube nicht. Vorsichtshalber glaube ich lieber.

Phettberg: Mir ist das nicht eigentlich genug, nicht genug hinuntergeschürft auf den Seinsgrund der wirklichen Angst und des wirklichen Joopseins. Im wirklichen Joopsein müßte eine viel klarere Antwort auf diese Frage kommen.

Joop: Meine Antwort war doch klar.

Phettberg: Nein, sie war Literatur oder Philosophie.

Joop: Was ist die wirkliche Frage?

Phettberg: Jeder Mensch ist eine Artischocke. Er hat viele Blätter und ganz wenig Grund. Ist man an dem angelangt, lautet die Antwort meines Erachtens: Es gibt keinen Gott! Aber daß Sie auf diesem Artischockenboden angelangt sagen: Ja, ich glaube an Gott - das kann ich mir nicht vorstellen!

Joop: Warum nicht?

Phettberg: Wie soll ich das sagen? Mal angenommen, Sie befänden sich im Sterbekammerl der Artischocke und sind ganz bei sich - ist da wirklich eine vollkommene Zuversicht: Ich lasse mich fallen, und da ist Gott, der fängt mich auf?

Joop: Ja.

Phettberg: Und der Gedanke war kontinuierlich da?

Joop: Seit meiner Kindheit; er hat mich nie verlassen. Ich fühle mich immer gehalten und grundsätzlich nie allein. Das kann nicht aus mir kommen.

Phettberg: Dann haben ja Sie den größeren Minderwertigkeitskomplex als ich.

Joop: Als Sie vorhin sinngemäß gesagt haben, Sie glaubten nicht an sich, hätte ich Ihnen am liebsten auf den Arm gefaßt und gesagt: Mir geht es nicht anders. Ich brauche ein Überego, um an mich glauben zu können. Ich sehe mich ja nicht. Keiner von uns sieht sich! Jetzt gucken Sie nicht so ungläubig.

Natürlich sehe ich mich!

Phettberg: Nicht wirklich. Komischerweise vergessen wir alle Abbilder von uns sofort wieder, auch wenn wir uns noch so oft gesehen haben. Das ist substantiellstes Vergessen.

Joop: Sie sehen Ihre Aura nicht, das tun nur die anderen.

Phettberg: Ich plädiere zornig für den Menschen und gegen Gott.

Mal angenommen, wir wollten über Sex reden: Mit welcher Frage würden wir direkt das Zentrum des Themas erreichen?

Phettberg: Ich habe auf einer Klowand einmal gelesen: Viele sehnen sich danach, endlich einem Menschen angstfrei in die Augen sehen zu können, und haben darum Sex. Darum geht es: sich nicht mehr schämen zu müssen.

Joop: Das glaube ich nicht. Scham entsteht aus Moralvorstellungen, und die sind von Gegend zu Gegend verschieden. Wenn Sie also dem Gefängnis der Scham entgehen wollen, habe ich nur eine Antwort: das Bahnticket, das ich Ihnen schon einmal angeboten habe.

Phettberg: Ich meine das mit der Scham diffiziler. Ich empfinde permanente Angst, zu minder zu sein, nicht zu entsprechen, zu untüchtig und zu wenig intelligent zu sein für die anderen.

Joop: Das kenne ich gut. Um dem zu entkommen, müßten wir beide nur eines trainieren: uns selber zu vergeben. Wir sind die einzigen, die sich deshalb verurteilen, die anderen empfinden das gar nicht.

Phettberg: Das stimmt theoretisch, aber es scheitert daran, daß das Hirn der Seele nichts sagen kann.

Joop: Doch!

Phettberg: Nein. Die Seele ist strikt materialistisch. Sie läßt nur den Erfolg gelten. Geld, Macht, Siege, sexuelle Beute.

Joop: Wo sitzt denn diese Seele, wenn sie nicht dort ist, wo auch das Hirn sitzt?

Phettberg: Wenn ich eine Niederlage erlebe, kann das Hirn noch so korrigierend eingreifen - es ist immer schon zu spät.

Joop: In diesem Frühjahr ist meine Tante Ulla gestorben, die ich sehr geliebt habe - ich habe das erste Mal miterlebt, wie es ist, wenn das Gehirn einfach zu arbeiten aufhört. Man sagt, daß in diesem Moment die Seele aus dem Menschen entweicht - und es ist tatsächlich so: Wenn ein Mensch stirbt, bleibt der Körper zurück wie ein abgelegtes Kleidungsstück.

Phettberg: War der Tod so, wie Sie ihn sich vorgestellt haben?

Joop: Schlimmer. Tante Ulla wurde in den letzten Momenten Ihrer Würde beraubt, weil man ihr die Zähne weggenommen hat wegen irgendeines Ausschlags im Mund. Am Ende ihres Lebens war sie wehrlos der eigenen Scham ausgeliefert.

Phettberg: Keinem einzigen Ihrer Worte widerspreche ich. Nur war mein Punkt: Ich, der ich nie liiert war, träume davon, daß ich mich im Zustand des Verliebtseins einmal einen Abend lang nicht anstregen müßte, zu obsiegen oder kongenial zu sein.

Joop: Ich fürchte, daß das ein Traum bleibt.

Phettberg: Die Frage war ja: Welche Frage führt ins Zentrum des Sexes?

Joop: Sie haben nicht von Sex gesprochen, sondern von Liebe. Sex bleibt eine physische Betätigung.

Phettberg: Ich warte auf das Glück, mich in Gegenwart eines anderen nicht mehr verstellen zu müssen.

Joop: Sie sprechen vom größten erreichbaren Vertrauen; das hat mit Sex nicht unbedingt etwas zu tun. In dem Film "Nacht der Wölfe" von Ingmar Bergman wird ein Mann von den Gestalten der Vergangenheit verfolgt. Am Ende des Films sieht man das Gesicht seiner Frau, Liv Ullmann, die ihn an diese Gestalten verliert. Sie sagt: "Ich habe ihn doch so geliebt. Aber es hat nicht genügt - ich hätte klug sein müssen." Das heißt, daß in der Liebe Klugheit, Raffinesse, Diplomatie, Politik wichtig sind, weil man sonst den anderen verletzt.

In welchem Moment Ihres Lebens haben Sie das Gefühl, ganz bei sich zu sein - und sei es noch so kurz?

Phettberg: Ich lege mich drei- bis viermal am Tag hin und schlafe. Wenn es nun meinem Körper gelungen ist, mich so weit zu bringen, daß ich wieder schlafen gehe, habe ich eine Art warmen Schüttelfrost, eine Schüttelfreude sozusagen. Der Körper hat gewonnen. In diesem Moment bin ich ganz bei mir.

Joop: Eigenartig, wir beide kommen immer wieder auf ganz ähnliche Bilder. Ich kenne dieses Schaudern auch sehr gut. Aber ohne Sie bewerten zu wollen - es sind oft kindliche Bilder, die Sie finden.

Phettberg: Stimmt genau, ich bin nulljährig, nulljähriger als Sie.

Joop: Das ist wunderbar so, Sie sind nulljähriger als ich.

Phettberg: Wollen wir uns duzen! Zwei Nulljährige! Es wäre obszön, uns weiter zu siezen nach dem bisherigen Gespräch.

Joop: Sehr gerne! Du willst immer wieder die Erlebnisse als Kind abrufen, bei denen du dich geborgen gefühlt hast.

Phettberg: Die Frage war aber an uns beide gerichtet. Wo ist dein Am-bei- dir-seinsten?

Joop: Ich habe so einen Ort noch nicht gefunden. Aber ich erlebe immer wieder kurze Momente, zum Beispiel während eines Gesprächs, wenn ich bemerke, daß ich mit manchen meiner Gefühlen nicht allein bin.

Wolfgang Joop hat die Angewohnheit, seine Ziele auf einen Zettel zu schreiben und auf einen anderen, wie er sie erreichen kann. Was steht auf Ihrer beider erstem Zettel?

Phettberg: Es müßte einen immerwährenden Salon Phettberg geben, von dem alle wüßten: Hier ist nichts zu erwarten. So wie man in ein Theater nur dann gehen dürfte, wenn die Besucher vorher hundert Euro in die Wiese schmeißen und dann eine Eintrittskarte um fünfzig Euro lösen. Nur so wäre sichergestellt, daß sie hundertprozentig nichts erwarten. Mein Salon müßte in einem elektronischen Medium eingerichtet werden, jede Woche eine Stunde lang. Die Sendung sollte heißen "Geld in die Wiese!"

Und auf Ihrem Zettel, Wolfgang Joop, was würde da stehen?

Phettberg: Romancier, du möchtest Romancier werden.

Joop: Das stimmt. Danke, daß du das für mich beantwortet hast, ich hätte mich nicht getraut, es zu sagen. Es wäre nach dreißig Jahren Karriere der Höhepunkt meines Lebens.

Wenn nun Jesus sich entschließen würde, an Ihnen ein Wunder zu vollbringen, wie lautete der Satz, den Sie an ihn richten würden?

Joop: Gib mir die Chance, das Wunder zu erbitten, wenn ich es brauche.

Phettberg: Mir wäre am meisten geholfen, wenn er mir meine Freßsucht nehmen würde. Ich habe jetzt vierzehn Monate asketisch gelebt, mußte aber jeden Tag daran denken, nicht zu fressen. Das heißt: Jeder Tag des Nichtfressens war erfüllt mit der Evidenz: Ich darf nicht fressen. Das heißt: Diese Tage waren genauso erfüllt mit Sucht wie die, in denen ich ihr nachgegangen bin.

Joop: Jetzt hast du mich dazu gebracht, daß ich meinen Gedanken über die Existenz Gottes genau formulieren kann: Gott ist deshalb existent, weil er uns ständig zwingt, uns zu ärgern, daß er nicht da ist. Wir sind dauernd an das erinnert, was wir nicht haben.

Phettberg: Dieses Credo lasse ich jetzt als Artischockenboden wirklich gelten. Jetzt habe ich dich soweit! Bin ich nicht ein Genie?

Joop: Ja! Aber ich auch.

Phettberg: Joop und Phettberg zueinander: Sind wir nicht Genies?


Interview: Christian Ankowitsch

Kastentext:

Phettberg: "Ich habe in meinem Leben nur ungefähr sieben Mal Sex gehabt." Joop: "Das nenne ich Erotik mit Überblick."
Phettberg: "Erst kommen Chicken McNuggets . . ." Joop: "Formfleisch, igitt. Die Sucht hatte ich nur kurz."
Phettberg: "Wissen Sie, daß ich lange Zeit, genau genommen bis vor fünf Tagen, geglaubt habe, Sie seien Calvin Klein?"

Wolfgang Joop
1942 in Potsdam geboren. Mit acht Jahren Umzug nach Braunschweig. Durch Zufall gewinnt Joop gemeinsam mit seiner Frau Karin einen Modewettbewerb. Die erste Kollektion unter eigenem Namen zeigt er 1982. Joop gehört mit Karl Lagerfeld und Jil Sander zu den wichtigsten deutschen Modemachern. Nach Jahren des Erfolgs verkauft Joop seine Firma schließlich an die Wünsche AG, die 2001 pleite geht. Derzeit schreibt er einen Roman und versucht, die Firma seines Namens zurückzukaufen.

Hermes Phettberg
Geboren 1952 in Hollabrunn/Österreich, lebt in Wien. Bürgerlicher Name: Josef Fenz. In einer Selbstauskunft schreibt er: "römisch-katholisch, gefirmt, warm und sadomasochistisch, Herrscher in Frührente, depressiv, freßsüchtig, schaut viel fern, wirft schwer weg". Vorübergehend Beamter. Bekannt wurde Phettberg als brillanter Moderator der Talkshow: "Phettbergs nette Leit Show", 1995. Sein Ruhm währte nur neun Monate. Seit damals gelegentliche Auftritte. Kolumnist einer Wiener Stadtzeitung.

Bildunterschrift: Zwei unerwartet parallele Existenzen: Wolfgang Joop und Hermes Phettberg im Wiener Hotel Imperial.
Fotos Hertha Hurnaus.
Wie wäre es, wenn man noch einmal null Jahre alt wäre und ganz von vorne anfangen könnte? Mit einem herzlichen Du zum Beispiel, oder mit der Frage, ob es einen Gott gibt und ob der es wirklich gut mit uns meint.

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